Reizklimatherapie

Die Herbst- und Wintermonate sind bestens geeignet, um bei einer Reizklimatherapie an Nord- oder Ostsee das Immunsystem zu trainieren. Bei Atemwegs- und Hauterkrankungen können die Klimareize zur Linderung der Symptome beitragen. Aus gutem Grund können manche Patienten die Reizklimatherapie als Rehamaßnahme beantragen.

Bei den Folgen des Klimawandels denken die meisten zuerst an Extremwetterereignisse wie Hitzewellen, Starkregen, Stürme oder anhaltende Trockenheit. Dass dies zur akuten Bedrohung unserer Lebenssituation und unserer Gesundheit werden kann, steht außer Frage. Andere Klimaveränderungen sind nicht so unmittelbar spürbar. Da sie jedoch nachhaltig die Umwelt beeinflussen und Lebensräume von Pflanzen und Tieren beeinträchtigen, gefährden auch diese Folgen unsere Gesundheit. In diese Kategorie fällt der veränderte Pollenflug.

Wenn man vom frischen Wind so richtig durchgepustet wird, darf man nicht zimperlich sein. Doch Wind und Kältereize haben durchaus positive Wirkung auf unsere Gesundheit. Sie trainieren die körpereigene Thermoregulation und sorgen für Abhärtung. Dieser Effekt lässt sich therapeutisch nutzen. Eine Reizklimatherapie an der See kann für Patienten mit chronischen Hauterkrankungen, chronisch-entzündlichen Atemwegserkrankungen und allergischen Erkrankungen sowie bei erhöhter Infektanfälligkeit oder geschwächtem Immunsystem geeignet sein. Bester Zeitpunkt: die kühlere Jahreszeit.

„Gleich einem elektrischen Schlage erregen die Kälte und der Wellenschlag anfangs eine Erschütterung des ganzen Menschen, der bald ein Gleichgewicht und die größte Harmonie aller Kräfte folgt, woraus ein sinnliches und geistiges Wohlbehagen zu entstehen pflegt. Der Atem wird frei und leicht, mit jedem Zuge desselben fließt neues Leben dem Blute zu. Hunger und Durst stellen sich öfter und stärker ein, die Verdauung geht rascher voran.“ Mit diesen Worten beschrieb 1821 Dr. Johann Ludwig Chemnitz, der erste Badearzt der Nordseeinsel Wangerooge, die positive Wirkung des Reizklimas auf unsere Gesundheit. Wie viele seiner Kollegen empfahl er, den wohltuenden Effekt einer Klimaveränderung, von der in besonderer Weise Patienten mit chronischen Haut- und Atemwegserkrankungen profitieren, therapeutisch zu nutzen.

Während vor 200 Jahren die Klimatherapie auf Erfahrungswerten basierte, kann man heute die Wirkweise der einzelnen Klimafaktoren auf unseren Organismus genauer beschreiben. Das Klima ist in unseren Regionen durch Jahreszeiten und Wetter bestimmt. Charakteristisch für die Küstengebiete und Inseln ist, dass im Gegensatz zum Binnenland die Tages- und Jahresschwankungen von Lufttemperatur und -feuchte deutlich geringer ausfallen. Der Wind bläst hingegen heftiger. Doch was ist das Besondere an den Klimafaktoren an der See, die an der Nordsee stärker, an der Ostsee in abgeschwächter Form das gesunde Reizklima ausmachen?

Indikationen für eine Reizklimatherapie
Krankheiten der Atemwege:
  • Nasenschleimhauterkrankungen (Rhinitis)
  • Nasennebenhöhlenentzündung
  • wiederkehrende Mandelentzündung
  • Kehlkopfentzündungen
  • Pseudokrupp
  • Keuchhusten
  • Bronchialschleimhautentzündung
  • Bronchialasthma
Hauterkrankungen:
  • Neurodermitis
  • Psoriasis
  • Acne juvenilis
Die therapeutischen Klimafaktoren

Man unterscheidet zwischen drei Wirkungskomplexen, die den Organismus beeinflussen: dem thermisch-hygrischen, dem aktinischen und dem chemischen. Diese treten allerdings nicht getrennt voneinander, sondern in unterschiedlicher Kombination und Stärke auf, ohne dass man ihre Dosierung gezielt beeinflussen könnte. Da die genaue Wetterentwicklung nur begrenzt vorhersehbar ist, muss deshalb das Verhalten dem aktuellen Wetter angepasst werden. Außerdem richtet sich die Therapie nach der Empfindlichkeit bzw. der Belastungsfähigkeit der Patienten. Denn letztendlich beruht die Wirkung der Klimatherapie auf einer Anpassung des Organismus an die Klimareize. Dadurch entsteht ein Trainings- und Abhärtungseffekt. Nur bei falscher Dosierung, etwa zu großer Intensität des Reizes oder zu langer Expositionszeit, können die Reizfaktoren belastend wirken.

Für manche Patienten ist daher die ruhigere Ostsee besser für eine Reizklimatherapie geeignet als die raue Nordsee. Auf den ostfriesischen Inseln ist das Reizklima besonders stark ausgeprägt. Man spricht auch vom Hochseereizklima. Etwas milder ist das Klima in den Küstengebieten, wo die Landmassen die kalten Seewinde etwas abschwächen.

Der thermisch-hygrische Wirkungskomplex

Zum thermisch-hygrischen Wirkungskomplex gehört alles, was den Wärmehaushalt des Menschen beeinflusst, also Lufttemperatur, Luftfeuchte, Wärmestrahlung und Wind. Diese Faktoren fordern mehr oder weniger stark die Thermoregulationsmechanismen unseres Körpers und beeinflussen dadurch unsere Gesundheit. Die Thermoregulation sorgt dafür, dass der Körper weder zu sehr auskühlt noch sich überhitzt. Durch Abkühlungsreize, beispielsweise Aufenthalt und Spaziergänge in der frischen Luft oder kühle Seebäder, soll die Wärmeregulation trainiert werden. Normalerweise hat der menschliche Körper eine durchschnittliche Temperatur von rund 37 Grad. Bei Kälteeinwirkung muss er schnellstmöglich Wärme bilden. Dies gelingt unter anderem über das Blutgefäßsystem der Haut.

Durch eine Engstellung der kleinen Blutgefäße wird die Durchblutung der Haut gedrosselt und so der Wärmeaustausch und -verlust über die Haut reduziert. Auf diese Weise sinkt die Hauttemperatur ab, aber die Kerntemperatur des Körpers bleibt nahezu erhalten. Außerdem wird die Stoffwechseltätigkeit erhöht und dadurch Wärme erzeugt. Ziel der Klimatherapie ist es, den Organismus nach und nach an die Kälteeinwirkung zu gewöhnen, so dass er dank dieser Abhärtung lernt, schneller auf die thermischen Reize zu reagieren.

Phasen der Abkühlungstherapie bei kalten Seebädern
Phase 1: Kälteschock

Der erste Kontakt mit dem Wasser wird stets als kalt empfunden. Diese Wahrnehmung betrifft nur die Körperpartien, die vom Wasser umspült werden, und dauert so lange an, bis die Hauttemperatur in diesen Hautabschnitten in etwa die Wassertemperatur erreicht. Das dauert ca. 2 Minuten.

Phase 2: Behaglichkeit

Unabhängig von der Dauer des Kälteschocks steigt die Körperkerntemperatur zunächst an und sinkt dann wieder ab. Diese Zeitspanne ist die Phase der Behaglichkeit.

Phase 3: Frieren

Die Phase der Behaglichkeit ist vorbei, sobald die Ausgangskerntemperatur wieder erreicht ist. Es beginnt ein leichtes Frösteln. Das Bad sollte jetzt schnellstens beendet werden, ansonsten kommt es zu Auskühlungserscheinungen: blauen Lippen, weißer Haut, Zähneklappern.

Quelle: Prof. Dr. med. Wolfgang Menger, Klimatherapie an Nordund Ostsee, Verlag Gustav Fischer

Weitere positive Effekte machen sich insbesondere bei Haut- und Atemwegserkrankungen bemerkbar. So z. B. bei Patienten mit Neurodermitis, die eine gestörte Hautdurchblutung haben. Während sie bei Säuglingen und Kleinkindern zumeist erhöht ist, neigt die Haut älterer Kinder und erwachsener Patienten zur Engstellung der Blutgefäße. Dank der Klimareize tritt ein Normalisierungseffekt ein: Zu starke Durchblutung wird gedrosselt, eine zu geringe gesteigert. Zusätzlich lindert die Kühle den Juckreiz der neurodermitiskranken oder entzündeten Haut. Gelingt es, den Juck-Kratz-Kreislauf zu durchbrechen, hat die Haut Gelegenheit zu regenerieren. Bei Atemwegspatienten führt die frische, kühle Luft zu einer tieferen Atmung. Beim Einatmen durch die Nase kommt es darüber hinaus zu einem Abschwellen der Nasenschleimhäute.

Der chemische Wirkungskomplex

Die reine Luft an der See und das maritime Aerosol werden zum chemischen Wirkungskomplex gezählt. Durch das Brechen der Wellenkämme und den Wind gelangen winzige, salzhaltige Meerwassertröpfchen in die Luft. Die Dichte des Aerosols hängt von Windstärke, -richtung und Wellengang ab. Der hohe Gehalt an Salz, Jod, Magnesium und Spurenelementen in der Luft regt die Immunreaktion der Haut und der Atemwege an. Ein Teil des Salzes schlägt sich schnell wieder nieder und hinterlässt den typischen Salzfilm. Bei Strandwanderungen in der Brandungsluft bleiben fast zwei Gramm Meersalz auf der Haut haften. Dies hat einen schuppenlösenden und hautglättenden Effekt, wovon insbesondere Patienten mit Schuppenflechte profitieren. Zudem eignet sich die Meerwasser- und Meerlufttherapie als ergänzende Maßnahme für die Behandlung von Akne. Der Salzfilm auf der feuchten Haut löst die Verhornung an den Ausführungsgängen der Talgdrüsen und trägt so zum Heilungsprozess bei.

Das maritime Aerosol tut jedoch nicht nur der Haut gut, es wird auch eingeatmet und damit zu einem ganz wichtigen Heilfaktor für verschiedene Atemwegserkrankungen. Die größeren Tröpfchen verbleiben in den oberen Atemwegen, dem Nasenund Rachenraum, während die feinen Tröpfchen bis in die unteren Atemwege – Luftröhre, Bronchien und kleinere Bronchialverzweigungen – vordringen. Auf allen Schleimhautabschnitten der Atemwege wirkt das maritime Aerosol schleimlösend. Diese Wirkung kann durch bewusst langsames, tiefes Atmen noch verstärkt werden.

Der aktinische Wirkungskomplex

Der aktinische Wirkungskomplex besteht aus der Strahlung der Sonne. Helligkeit und Wärme heben vor allem das seelische Wohlbefinden. Medizinisch von Bedeutung ist jedoch hauptsächlich die nicht sichtbare ultraviolette Strahlung. Sie regt unter anderem das Immunsystem an, steigert die Durchblutung und wirkt sich positiv auf die Bildung des körpereigenen Kortisons aus. Darüber hinaus spielt die UV-B-Strahlung eine entscheidende Rolle bei der Bildung von Vitamin D. Ganz wichtig ist allerdings der vernünftige und kontrollierte Umgang mit der Sonne. Die Haut muss unbedingt mit geeigneten Sonnenschutzmitteln vor Verbrennung geschützt werden.

Ganzjährige Reizklimatherapie

Grundsätzlich sollte man die Reizklimatherapie behutsam angehen. Das bedeutet, Klimaanpassung und Abhärtung erfolgen idealerweise unter ärztlicher Kontrolle, und zwar stufenweise mit zunächst kürzeren Aufenthalten im Freien, die langsam gesteigert werden. Hinzu kommen weitere, individuell auf das Krankheitsbild abgestimmte Therapiemaßnahmen. An Nord- und Ostsee und insbesondere auf den nord- und ostfriesischen Inseln finden Patienten mit Haut- und Atemwegserkrankungen zahlreiche Fachkliniken, die eine Reizklimatherapie durchführen. Damit der Körper sich auch wirklich umstellen kann, sollte man für die Klimatherapie drei bis vier Wochen einplanen.

Klimatherapie als Rehamaßnahme

Sofern die Reizklimatherapie vom behandelnden Arzt als eine medizinische Behandlung befürwortet wird und ein entsprechender medizinischer Befund vorliegt, kann sie als stationäre Rehamaßnahme beantragt werden.

Antragsformulare und Informationen dazu erhalten Sie beim zuständigen Sozialversicherungsträger, das ist entweder Ihre gesetzliche Krankenversicherung oder die Rentenversicherung. Allgemeine Informationen dazu finden Sie bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung unter: www.kbv.de/html/rehabilitation.php sowie bei der Deutschen Rentenversicherung unter: www.deutsche-rentenversicherung.de

Informationen zu Heilbädern und Fachkliniken: Deutscher Heilbäderverband e. V., www.deutscher-heilbaederverband.de

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